Burgdorfer StadtMAGAZIN Nr. 02 - Sommer 2020

8 tellen» eigene Steuern zu erheben. Als Beweis der Zugehörigkeit einer Person bzw. Familie zu einer Ge- meinde galt der «Heimatschein», der vorgewiesen werden musste, bevor man sich irgendwo niederlas- sen konnte. Auch in Burgdorf fiel damit das Armenwesen in die Kompetenz der Burgergemeinde. Sie hatte fortan nicht mehr nur für ihre ursprünglichen Bürger zu sorgen, sondern auch für die «Hintersässen», die ausserhalb der Stadtmauern und ohne Grundbesitz, aber trotz- dem in Burgdorf lebten. Und das war eine beträchtli- che Anzahl: Wegen der über lange Zeit sehr restriktiven Aufnahme von neuen Bürgern bei gleich- zeitigem Bevölkerungswachstum im Umland lag der Anteil der minderberechtigten Hintersässen auf Ge- meindegebiet zur Mitte des 18. Jahrhunderts bei rund 40%. Im ganzen Kanton wurden Hunderte von Hinter- sässen in denjenigen Gemeinden eingebürgert, in denen sie sich gerade aufhielten. Knappe finanzielle Mittel Die finanziellen Belastungen durch die weit verbrei- tete Armut waren für viele Gemeinden beträchtlich. Die Einnahmen zur Deckung der Armenlasten (Zin- sen, Bussen, Gebühren und Steuern) waren nicht aus- reichend, und man suchte nach Lösungen, welche die Kassen entlasteten. Denn der Staat Bern unterstützte die Gemeinden nur in Ausnah- mefällen mit zusätzlichen Mitteln. Eine gebräuchliche Praxis in diesem Zusammenhang war die Verdingung oder «Ver- tischgeltung» von Armen, Waisen, Findelkindern und unehelichen Kindern. Mit dieser Fremdplatzierung wurden mittellose Personen in Familien untergebracht, die dann für ihr leibliches Wohl zu sorgen hatten. Als Gegenleistung mussten die «Vertischgelteten» ihre Arbeitskraft zur Verfü- gung stellen. Organisiert und alljährlich vertraglich neu festgehalten wurde diese «Vermittlung» durch die Fürsorge-Behörde der Gemeinde. Für die Behörde standen dabei finanzielle Überlegungen durchaus im Zentrum, denn die Unterbringung im Spital verur- sachte viel höhere Kosten als die Verdingung. Zudem war man überzeugt, dass die Platzierung in einer in- takten Familie den betroffenen Kindern eine gute Er- ziehung und vielleicht sogar eine Berufsausbildung ermöglichen würde. Trotzdem wuchs vor allem in der Mittelschicht der Unmut über die steigenden steuerlichen Belastungen. Gleichzeitig wurden mit der Helvetik ab 1798 die Privi- legien der wohlhabenden, alteingesessenen Städter immer weiter abgebaut. Mehr Sinn für Fürsorge Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft – auch über unser Land – waren die 1820er-Jahre von einer regelrechten Aufbruchstimmung geprägt. Über- all entstanden Vereine für Schützen, Turner oder Sän- ger. Auch die Fortschritte in Wirtschaft und Technik sowie im Sozial- und Bildungswesen zeugen von dem kräftigen neuen Wind in der Gesellschaft. Diese Auf- bruchstimmung prägte auch Burgdorf. Führende Köpfe trieben die wirtschaftliche Entwicklung voran und setzten sich aber gleichzeitig auch für die sozial Schwächeren ein. So beschloss zum Beispiel der Bur- gerrat im Jubiläumsjahr der Reformation 1828 nicht nur den Bau eines grossen neuen Spitals, sondern ebenso die Erweiterung des Knabenwaisenhauses (heutige Musikschule) und die Errichtung einer regio- nalen Armenanstalt in Zu- sammenarbeit mit den Armenvereinen des Amts- bezirks. Die entstehenden öffent- lich-rechtlichen Strukturen mit den Einwohnergemein- den und den Verfassungen von Bern (1831) sowie der Eidgenossenschaft (1848) boten noch kein ausrei- chendes soziales Netz für Menschen in Not. Deshalb entstanden zunehmend gemeinnützige Organisatio- nen, die sich für Verbesserungen des Armen- und Schulwesens einsetzten. Auch in Burgdorf übernahm eine private, gemeinnützige Organisation eine tra- gende Rolle. «In dem Kanton Bern beruht das Armenwesen auf der schönen Idee: Es sey jede Gemeinde eine größere Familie und es haben die Vermöglichern die Verpflichtung, ihre ärmeren Brüder zu unter- stützen. Von dieser Verpflichtung haben die Armen einen großen Mißbrauch gemacht.» Aus einem Bericht an den Grossen Rat des Kantons Bern um 1820

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc3MzQ=